Bonn/Frankfurt am Main, Im Mai 2002
Schwangerschaftsabbruch bei medizinischer Indikation
Stellungnahme der Arbeiterwohlfahrt, Paritätischer Wohlfahrtsverband und pro familia
Die aktuelle Fachdiskussion erfordert aus Sicht der Praxis der Schwangerschaftsberatung eine Positionsbestimmung zur Stärkung einer behandlungsunabhängigen Beratung und fachübergreifenden Kooperation bei psychosozialer Beratung. Im Bereich der Schwangeren- und Familienhilfe unterstützen wir daher Initiativen und Vorschläge zur Bekanntmachung und zur Stärkung eines niedrigschwelligen Informations- und Beratungsangebotes. In diesem Zusammenhang verweisen wir beispielhaft auf ein derzeit von der BZgA in Kooperation mit der BAGFW entwickeltes Medienpaket zum Thema "Pränataldiagnostik in Kontext von Schwangerschaftskonfliktberatung" als flankierende Maßnahme zum Recht auf Beratung nach § 2 des Schwangerschaftkonfliktgesetzes. Darüber hinaus wurde als zentrales Ergebnis des BMFSFJ-Modellprojektes "Entwicklung von Beratungskriterien für die Beratung Schwangerer bei zu erwartender Behinderung eines Kindes" die Notwendigkeit der Kooperation medizinischer Versorgung und psychosozialer Beratungsangebote insbesondere bei Schwangerschaftsabbrüchen im Kontext von Pränataldiagnostik hervorgehoben. Die zentralen Anregungen des Projektes müssen aufgegriffen und mit der Problematik der späten Schwangerschaftsabbrüche nach vorgeburtlicher Diagnostik verknüpft werden, um den hieraus abzuleitenden Handlungsbedarf für den Bereich der Angebote für schwangere Frauen aufzuzeigen.
Schwangerschaftsabbruch: ein gesellschaftlicher Kompromiss
Die bis 1995 geführte Debatte zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs im Rahmen der § 218 StGB-Reform hat zu einem breiten gesellschaftspolitischen Kompromiss geführt. Der Kompromiss misst dem ungeborenen Leben einen hohen Schutz bei und achtet die Würde der Frau bei möglichen Konflikten während der Schwangerschaft. Die Debatte hat gezeigt, dass Strafandrohung Schwangerschaftsabbrüche nicht verhindern kann. Die Entscheidung schwangerer Frauen für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft ist grundsätzlich eine Gewissensentscheidung und ihr liegen vielfältige und komplexe Bedingungen und Motive zugrunde. Es sind Voraussetzungen notwendig, die es Frauen und Paaren ermöglichen, Schwangerschaften auszutragen und ungewollte Schwangerschaften zu verhüten. Die gesellschaftliche Wertschätzung vorgeburtlichen Lebens kann nur durch verbindliche Angebote und Anstrengungen zum Ausdruck kommen, die Frauen die Annahme einer Schwangerschaft erleichtern. Dies setzt auch entsprechende soziale und ökonomische Rahmenbedingungen voraus, die ein Leben mit Kindern - unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht - fördern sowie in einer kinderfreundlichen Lebenswelt schützen.
Bei Vorliegen einer medizinischen oder kriminologischen Indikation, die einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigt und als nicht rechtswidrig gilt, hat der Gesetzgeber bewusst auf eine gesetzliche Pflicht zur Beratung verzichtet. Außerdem wird bei der medizinischen Indikation keine gesetzliche Frist eingeräumt, bis wann der Abbruch durchgeführt werden muss. Eine medizinische Indikation liegt vor, wenn ein Abbruch erwogen wird, weil aus ärztlicher Sicht die Fortführung der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und künftigen Lebensverhältnisse eine Gefahr für Gesundheit und Leben der schwangeren Frau bedeuten würde. Sie kann auch dann vorliegen, wenn durch vorgeburtliche Diagnostik eine zu erwartende Behinderung oder Schädigung des Kindes prognostiziert wird und ein Austragen der Schwangerschaft eine schwerwiegende körperliche oder seelische Belastung für die Frau bedeuten würde. Ob eine Frau eine in dieser Hinsicht gefährdete Schwangerschaft austrägt oder nicht, muss sie nach ihrer ganz persönlichen Werthaltung und Situation entscheiden können. Allein die Tatsache, dass ein Embryo oder Fötus genetisch oder in seiner Entwicklung auffällig ist, ist kein Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Auch hier gilt, dass immer unterschiedliche Gründe für die Fortsetzung oder den Abbruch einer Schwangerschaft bestehen. Diese Gründe lassen sich nicht einseitig mit einer ablehnenden Haltung oder Negativ-Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen erklären.
Schwangerschaft: eine selbstbestimmte Lebensphase
Wir halten es für problematisch, schwangeren Frauen grundsätzlich mit einem Risikokonzept von Schwangerschaft gegenüber zu treten. Eine Schwangerschaft bewirkt körperliche, soziale und individuelle Veränderungen in einer bestimmten Lebensphase. Die Veränderungen erfordern eine qualifizierte Schwangerenvorsorge, aber nicht zwingend eine Vielzahl von pränataldiagnostischen Untersuchungen. Da diese Trennung von Schwangerschaftsvorsorge und Pränataldiagnostik nicht immer deutlich gemacht wird und inzwischen z. B. bei Ultraschalluntersuchungen auch fließend ist, ist hier eine besondere Information und Aufklärung aller angefragten und eingebundenen Berufsgruppen (Mediziner/-innen, Hebammen, psychosoziale Beraterinnen) erforderlich. Vor dem Hintergrund, dass es fast keine Therapiemöglichkeiten bei Diagnosen eines "auffälligen" Befundes gibt, wird Frauen aus medizinischer Sicht oft ein Schwangerschaftsabbruch nahegelegt. Einige diagnostische Verfahren greifen zudem nur zu einem so späten Zeitpunkt der Schwangerschaft, dass ein Abbruch nur mit einer eingeleiteten Geburt herbeigeführt werden kann. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Fötus dennoch überlebt. Auch wenn dies sehr seltene Einzelfälle bleiben, lösen sie verständlicherweise große Betroffenheit und Empörung aus. Diese Problematik ist dennoch nicht durch Strafgesetze zu lösen. Die Zunahme pränataldiagnostischer Methoden hat dazu geführt, dass die Verantwortung für die Geburt eines Kindes mit Behinderungen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen verstärkt als privates Verschulden betrachtet wird. Behinderung und Entwicklungsauffälligkeiten gelten zunehmend als vermeidbar. Zu Recht weisen Behindertenorganisationen in diesem Zusammenhang auf die Gefahr von Entsolidarisierung hin.
Die Erfahrungen aus der Beratungspraxis zeigen, dass ein Großteil der Frauen nicht ausreichend über die Möglichkeiten und Grenzen pränataldiagnostischer Untersuchungen informiert ist. Sie werden oftmals von einem "auffälligen" Befund völlig unvorbereitet getroffen und sind dadurch teilweise stark verunsichert. Wenn Frauen und Paare es wünschen, dann ist Unterstützung, Begleitung und jede Form von fachlicher Beratung vorzuhalten, um mit den ausgelösten Widersprüchen und Ambivalenzen selbstbestimmt umgehen zu können. Daher müssen ungehinderte Zugänge zu Informationen über entsprechende Unterstützungsangebote sichergestellt werden.
Interdisziplinäre und präventive Beratungsangebote ohne Pflichtberatung
Die Arbeiterwohlfahrt, der PARITÄTISCHE Wohlfahrtsverband und Pro Familia lehnen eine Ausdehnung der Pflichtberatung bei späten Schwangerschaftsabbrüchen ab. In der Pflichtberatung drückt sich grundsätzlich eine Entmündigung von Frauen und eine Missachtung ihrer Entscheidungskompetenz aus. Im Rahmen der Neuregelung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes wurde zu Recht unmissverständlich klargestellt, dass die Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der Frau nicht erzwungen werden darf. Entscheidend ist, dass das für jede Beratung grundlegende Vertrauensverhältnis zwischen Ratsuchenden und BeraterInnen nicht infrage gestellt wird. Dazu ist es notwendig, die Rechte der Frau in der Beratung eindeutig zu benennen. Die Praxis bestätigt, dass eine Fortsetzung des Beratungsgesprächs nur im Einvernehmen mit der Frau vereinbart werden kann. Alle Optionen sind zu beachten: das Recht auf Nicht-Wissen, das Recht, sich nach positivem Befund für ein Kind zu entscheiden und das Recht, die Schwangerschaft vor dem Hintergrund individueller Kriterien nicht auszutragen.
Es sind präventive Maßnahmen zu unterstützen, die dazu beitragen, die öffentliche Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Risiken der neuen Medizintechniken zu fördern und eine individuelle Haltung zu Behinderung und Abbruch vor Inanspruchnahme vorgeburtlicher Diagnostik zu entwickeln. Ein flächendeckendes interdisziplinäres Netz an Angeboten der Information, Aufklärung und Beratung - nicht erst zum Zeitpunkt einer Schwangerschaft - ist langfristig wirkungsvoller und daher sicher zu stellen, wie es auch das Schwangerschaftkonfliktgesetz vorsieht. Sinnvollerweise sollten in diesem Zusammenhang über die Schwangerschaftsberatungsstellen hinaus Kooperationsformen und Beratungsangebote mit Behinderten-Selbsthilfeorganisationen erschlossen werden. Eine Aufgabe der Beratung vor, während und nach der Pränataldiagnostik muss darin liegen, einer Stereotypisierung des "behinderten" Kindes oder des Lebens mit einem "behinderten" Kind entgegenzuwirken.
Während medizinische Beratung oder Aufklärung z. B. vor Anwendung einer vorgeburtlichen Untersuchung den Zweck hat, eine "informierte Zustimmung" (informed consent) einzuholen und somit der Absicherung des eigenen professionellen Handelns des Arztes dient, ist psychosoziale Beratung ein offenes Angebot. Die Interessen und Bedürfnisse von Ratsuchenden stehen hierbei im Mittelpunkt. Die Erfahrungen zeigen - wie auch durch Ergebnisse des im Mai 2001 abgeschlossenen BMFSJ-Modellprojektes "Entwicklung von Beratungskriterien für die Beratung Schwangerer bei zu erwartender Behinderung eines Kindes" bestätigt -, dass ein partnerschaftlicher Umgang von MedizinerInnen, Hebammen und MitarbeiterInnen aus Schwangerschaftsberatungsstellen und der Behindertenarbeit noch mehr in den Blick genommen werden muss. Diesen gilt es daher zu entwickeln bzw. auszubauen.
Über die bestehende gesetzliche Regelungsdichte hinaus sollte in jedem Fall eine weitere "Ver-Regelung" der Beratung entgegen gewirkt werden. Vielmehr ist den Vorschlägen der Vorzug zu geben, die auf stärkere interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung der medizinischen und psychosozialen behandlungsunabhängigen Beratung abzielen, um den Betroffenen in der Beratung Raum für Perspektiven, Ermutigung und eine Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Frau zu eröffnen.
Forderungen
Stärkung der Selbstbestimmung
Im Rahmen der regulären Schwangerenvorsorge sollen Frauen und Paare selbstbestimmt, informiert und aufgeklärt und damit bewusst über die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik entscheiden können. Ihnen sollte bereits vor Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik die Möglichkeit gegeben werden, eine "informierte" Wahl zu treffen, welche Diagnoseverfahren sie in Anspruch nehmen möchten und welche nicht. Der derzeitig umfänglich praktizierten Anwendung von selektiver Pränataldiagnostik ist Einhalt zu gebieten. Dies schließt auch ein, dass schwangere Frauen und Paare ihr Recht auf Nicht-Wissen einlösen können.
Keine Pflichtberatung bei Spätabbrüchen
Wir setzen uns dafür ein, dass Ratsuchende darin unterstützt werden, eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen. Dies bedeutet die Begleitung und Unterstützung eines Klärungsprozesses, der die aktive Mitwirkung der Ratsuchenden, gegenseitiges Vertrauen, Respekt und Offenheit voraussetzt. Ein solches Beratungsverständnis setzt naturgemäß die Freiwilligkeit von Beratung voraus.
Keine Änderung des Strafgesetzbuches
Wir lehnen es ab, die Probleme, die im Zusammenhang mit späten Schwangerschaftsabbrüchen auftreten, über das Strafgesetz zu lösen. Schon jetzt werden schwerwiegende Gründe für einen späten Abbruch vorausgesetzt. Es gibt keinerlei Ansatzpunkte dafür, dass hier gegen geltendes Recht verstoßen würde.
Änderung des Mutterpasses
Wir können die Forderung nach einer Selbstverpflichtung der Ärzte, Schwangerschaftsabbrüche allein aufgrund eines pränataldiagnostischen Befundes ab der Grenze der Lebensfähigkeit nicht mehr durchzuführen, nachvollziehen. Allerdings fordern wir zusätzlich Änderungen im Mutterpass. Dieser sollte einen Hinweis auf den gesetzlichen Rechtsanspruch (§ 2 SchKG) auf umfassende medizinische und psychosoziale Beratung und Aufklärung enthalten sowie die behandlungsunabhängigen psychosozialen Beratungsangebote der anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen und der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen explizit benennen.
Notwendigkeit der interdisziplinären Vernetzung und Kooperation
Wir setzen uns für interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung ein und fordern daher, die erforderlichen fachlichen Voraussetzungen und entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen zu schaffen und abzusichern. Es sollten verstärkt Möglichkeiten zur Verbesserung der Information über entsprechende Beratungsangebote (z. B. durch Einlage im Mutterpass) geprüft und entwickelt werden.
Haftungsrechtliche Klärung und Änderung der Mutterschaftsrichtlinien
Wir fordern von den Standesorganisationen der Ärzteschaft, ihren Fachgesellschaften und den kassenärztlichen Vereinigungen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass selektive vorgeburtliche Untersuchungen nicht aus haftungsrechtlichen Gründen angeboten und/oder durchgeführt werden. Jedweder haftungsrechtliche Anspruch wegen einer voraussichtlichen Behinderung eines Neugeborenen, der sich darauf bezieht, dass dieser Mensch nicht hätte geboren werden sollen, muss ausgeschlossen werden. Vorgeburtliche Untersuchungen dürfen nicht als Routine durchgeführt werden. Sie setzen eine informierte Zustimmung der schwangeren Frau voraus.
Fortführung einer breiten gesellschaftlichen Debatte
Wir setzen uns dafür ein, dass die kritische Betrachtung der Praxis vorgeburtlicher Diagnostik und der Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen zusammengeführt und die Ethikdiskussion gesellschaftlich breit und konsequent weitergeführt wird.