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23.11.2000

Familienpolitik und Lebensstil

Von Susanne Gaschke / DeutschlandRadio Berlin: Politisches Feuilleton

Man muß als Arzt nicht unbedingt schon einmal selbst einen Schlauch geschluckt haben, um eine Magenspiegelung durchführen zu können. Abe die Erfahrung hilft durchaus dabei, die Gefühle des Patienten in dieser unangenehmen Situation zu verstehen. Wenn wir uns heute wundern, daß die Familienpolitik in diesem Land nicht recht vom Fleck kommt, daß sie eigentlich kaum jemanden - nicht einmal die damit befaßten Politiker und Redakteure - wirklich brennend zu interessieren scheint, dann mag das auch daran liegen, daß die politisch-journalistische Klasse sich dem traditionellen Familienleben zunehmend entfremdet.

Diese Feststellung läßt sich ohne anprangernden Unterton treffen; der Befund ist gleichwohl ein Problem. Es geht nicht darum, Politikerverdrossenheit zu schüren mit dem Tenor: alles Egoisten und Selbstverwirklicher. Aber das Leben in der Kunstwelt der Pressekonferenzen und Podiumsdiskussionen, der Ausschuß- und Redaktionssitzungen, der Ausstellungseröffnungen und Empfänge, der Kurzstreckenflüge, Fahrbereitschaften und Taxiquittungen hat wenig zu tun mit de Sphäre des Einkaufens und Schulbrotmachens, des Betten-Beziehens und Gedichte-Abhörens; nichts mit Besuchen bei den Großeltern und Gehetze zwischen Schule, Kindergarten und mühsam finanziertem Reiheneigenheim.

Die Erfahrungen der Repräsentierten und ihrer Repräsentanten fallen unter den Bedingungen des modernen Politikbetriebes fast notwendig auseinander. Wer drinnen mithalten will, kann sich allzuviel familiäres Engagement nicht leisten. Gewiß, das eine oder andere Ministerbaby oder -enkelkind wird öffentlich beklatscht. Doch natürlich darf es die Arbeit des Amtsinhabers nicht wirklich stören. In der familienpolitischen Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion erschien es kürzlich als geradezu revolutionäre Idee, Zusammenkünfte nicht am Wochenende abzuhalten, weil einige Abgeordnete bei ihren Familien sein wollten.

Die Arbeitsbedingungen der meisten Politiker und ebenso einer wachsenden Zahl von Journalisten lassen eigentlich nur zwei Bewältigungsstrategien zu: Entweder man hat zu Hause eine Funktionsfamilie, die gebügelte Hemden und einen gefüllten Kühlschrank vorhält, die man darüber hinaus allerdings selten sieht. Diese Lösung kommt eigentlich nur noch für Männer einer bestimmten Altersgruppe in Betracht. Oder man schlägt sich im harten Alltag als kinderloser Single durch: Das ist vor allem der Weg der Frauen und der jüngeren Männer. Und in der Tat: Wann sollte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ein Baby hüten? Oder die baden-württembergische SPD-Spitzenkandidatin Ute Voigt einen Kindergeburtstag organisieren? Während der Verzicht auf eine Familie den Frauen oft noch ein wenig schwerfällt, haben die jüngeren Männer längst die Vorteile totaler Konkurrenz- und Einsatzfähigkeit erkannt: Bindung und Verantwortung waren offenbar die entbehrlichsten Aspekte des Patriarchats.

Diese Entfremdung der politischen Klasse von den traditionellen Anforderungen des Familienlebens hat eine gesellschaftspolitische Wirkung, die jede Kindergelderhöhung in den Schatten stellt. Wer nicht weiß, wie sich 'Familie' anfühlt, der wird nie richtig verstehen, warum sich nicht alle Vereinbarkeitsschwierigkeiten von Nachwuchs und Beruf mit der Ganztagsschule lösen lassen. Wer keine Kinder kennt, wird den Unsinn glauben, den pädagogische Fachbruderschaften verbreiten: daß nämlich in Wahrheit die Gruppenbetreuung für kleine Kinder das Allerbeste sei. Und Dauerfernsehen nicht schädlich. Und schwule Eltern eigentlich ein Segen.

Politik und Journalismus in ihrer gegenseitigen Bespiegelung produzieren gegenwärtig nur Bilder der Bindungslosigkeit: Flexibilität ist alles. Erfolg hat man allein.

Gewiß kann es nicht darum gehen, nun im Gegenzug stillende Mütter im Bundestag zu zeigen; die wachsamen Steuerbürger wären die ersten, die sich erregten, wenn Politiker familienhalber ihre Arbeit vernachlässigten. Aber irgendwo müssen die Bilder herkommen, die signalisieren, daß das Familienleben, das Zusammenleben mit Kindern, keine Anachronismus ist, keine Abirrung vom Erfolgspfad des flexiblen Menschen. Das zu erwartende Kindergeld ist letzten Endes für kaum jemanden ein entscheidendes Argument, wenn es um die Kinderfrage geht: Das gesellschaftliche Klima, das, was man tut oder läßt, ist ungleich wichtiger. Und dieses Klima setzt sich nun einmal zusammen aus den Strudeln und Wirbeln und Strömungen des Zeitgeistes. Diese Strömungen aber fließen heute weg von den Familien, die sich auf einem schlammigen Ufer gestrandet sehen, unsicher, ob dies eigentlich ihr Land sei oder es wieder werden könnte.

Susanne Gaschke: Redakteurin im Ressort Politik bei der Hamburger Wochenzeitung 'Die Zeit'. Nach ihrer Promotion über die 'Ästhetischen Wirkungsbedingungen von Kinderliteratur' arbeitete sie zunächst als freie Journalistin, unter anderem für die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung' und den NDR. Nach einem Volontariat bei den 'Kieler Nachrichten' ging Susanne Gaschke 1997 zur 'Zeit'. Dort schreibt sie vor allem über Jugend- und Familienpolitik sowie über politische Generationenindentität jenseits von 1968.

(c) DeutschlandRadio 2000

 


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