Pressemitteilung der SPD-Landtagsfraktion vom 02.02.2001
Vereinbarkeit von Kindern und Beruf gerechter Leistungsausgleich, bessere
Rahmenbedingungen
Renate Schmidt formuliert drei Säulen einer "Familienpolitik für den Beginn
des 21. Jahrhunderts"
Unter dem Titel "Familienpolitik für den Beginn des 21. Jahrhunderts" hat
die stellvertretende SPD-Vorsitzende Renate Schmidt, Leiterin der Kommission
Familie beim SPD-Vorstand, ein Positionspapier vorgelegt. Darin zieht sie
nicht nur kritische Bilanz der Situation der Familien, sondern fordert drei
Säulen einer zukunftsgerichteten und erfolgversprechenden Familienpolitik
ein: die Vereinbarkeit von Kindern und Erwerbstätigkeit für Mütter und
Väter, einen gerechten Familienleistungsausgleich und die günstige
Rahmenbedingungen für Familien in der Infrastruktur.
Familienpolitik für den Beginn des 21. Jahrhunderts
I. Familienpolitik wird ein, wenn nicht das zentrale gesellschaftspolitische
Thema der nächsten Zukunft.
Dies hat vier Gründe:
1. das Bedürfnis der Zugehörigkeit in Zeiten der Globalisierung: Die
Akzeptanz von Familie hat in der Gesamtbevölkerung von 68 Prozent im
Jahr 1980 auf 80 Prozent im Jahr 1998 zugenommen. Neu ist die hohe
Wertschätzung auch bei den Jungen. Nach der Shell- Studie ist bei
jungen Frauen und Männern der Wunsch nach Familie bei etwa 90 Prozent
vorhanden.
2.die Veränderungen von Familienstrukturen und die damit einhergehenden
bisher nicht gelösten Probleme: Als Stichpunkte seien genannt: Ein
Kind-Familie als Regelfall, das zunehmende Bedürfnis von Frauen,
möglichst durchgehend (mit kurzen Unterbrechungen), erwerbstätig zu
sein und Karriere zu machen, Zunahme der Ein-Eltern-Familie und der
sogenannten Patchwork-Familien.
3.die Verlagerung des Armutsrisikos von den Alten auf die Jungen: 40
Prozent der 2,9 Millionen Sozialhilfeempfänger sind unter 18 Jahren.
4.die demographische Entwicklung hin zu! einer Gesellschaft, in der
Kinder zu Ausnahmen werden.
II. Zum Bedürfnis nach Familie
1. Familie ist (in all ihren Formen) Zukunftsmodell. Familie muß positive
Unterstützung durch die Politik erfahren (alle Formen von Familie
eingeschlossen, auch die sogenannte herkömmliche - Vater, Mutter, ein bis
zwei Kinder -, in der immerhin drei Viertel aller Familien leben).
2. Familie darf nicht als Objekt staatlicher Fürsorge "klein gemacht"
werden. Familien müssen, der Realität entsprechend, als herausragende
Leistungsträger der Gesellschaft (größte Steuerzahler sowohl bei direkten
als auch indirekten Steuern, die meiste ehrenamtliche Arbeit wird von
Familien geleistet, etc.) wahrgenommen werden.
3. Partnerschaft und Familien sind nicht allein Privatsache, sondern eine
gesellschaftliche Aufgabe. Junge Menschen müssen auf Partnerschaft und
Familie vorbereitet werden. Das heißt konkret: Das Thema gehört in die
Curricula aller Schularten.
III. Veränderung der Familienstrukturen
1. Herausragendste Veränderung ist das Bedürfnis von Frauen erwerbstätig zu
sein, Kinder zu haben und für beides die notwendige Zeit zu haben.
Diesem Bedürfnis tragen auf Bundesebene die Gesetzgebung der Bundesregierung
Rechnung mit dem neuen Anspruch auf Teilzeitarbeit und insbesondere die
Initiativen von Christine Bergmann mit Verbesserungen im ehemaligen
Erziehungsurlaubsgesetz (was hatte das mit Urlaub zu tun) und seiner
Umwandlung in ein Gesetz über Elternzeit und Elterngeld.
Hinzu kommt, dass durch die Möglichkeit der Budgetierung des Elterngeldes
auf 900 Mark plus Kindergeld für ein Jahr die finanzielle Ausstattung für
diese Zeit gut geregelt ist. Die damit verbundene kurze Elternpause
entspricht unseren Vorstellungen und den Wünschen der jungen Menschen eher
als ein dreijähriger Ausstieg aus der Erwerbsarbeit. Die Erfolgsquote für
einen Wiedereinstieg ist meßbar höher.
2. Nach Prognosen wird sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern
auf 72 bis 78 Prozent einpendeln. Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion
über Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie die Diskussion von gestern.
Heute muss es um die Realisierungsmöglichkeit eines Lebens mit Kindern in
einer wesentlich durch Arbeit geprägten Gesellschaft gehen. Das heißt: Zeit
für Kinder muss als gleichberechtigter Anspruch neben der Zeit für Arbeit
stehen - ohne Begrenzung auf die ersten Lebensjahre des Kindes (nach Prof.
Dr. Hans Bertram, Humboldt-Universität Berlin).
Es geht nicht darum, Kinder aus dem Erwerbsleben wegzurationalisieren,
sondern darum, sie und ihre Bedürfnisse dort zu integrieren.
3. Es bleibt aber festzuhalten: In der Frage der Betreuung von Kindern von 0
bis 16 Jahren ist Deutschland Schlusslicht in der EU - und Bayern
Schlusslicht in Deutschland.
(In Bayern stehen für die 390 000 Kinder im Alter von 0 bis 3 Jahren 5 559
Kinderkrippenplätze zur Verfügung; dies entspricht einem Versorgungsgrad von
1,4 Prozent. Bei Horten besteht ein Versorgungsgrad von 3,8 Prozent.
Ganztagsschulen gibt es 29, überwiegend in Oberbayern und davon 24 in
privater Trägerschaft. Die sogenannte verlässliche Halbtagsschule hat sich
als Mogelpackung herausgestellt.)
4. Hohe Erwerbsbeteiligungen von Frauen korrespondieren mit hohen
Geburtenraten, wie der internationale Vergleich zeigt. Die Geburtenraten
sind seit 1970 in allen EU Staaten zurückgegangen (1970: niedrigste Rate in
Finnland: 1,83, höchste Rate in Spanien: 2,86 - 1997: niedrigste Rate in
Spanien: 1,14, höchste Rate in Norwegen: 1,86). Deutschland ist von 2,02 in
1970 auf 1,37 in 1997 zurückgefallen.
Schaut man sich die Geburtenrate und die höchste Erwerbsbeteiligung von
Frauen gemeinsam an, dann hat Norwegen die höchste Geburtenrate mit 1,86
(gefolgt von anderen skandinavischen Ländern) und gleichzeitig mit 75,3
Prozent (1997) die höchste Erwerbsbeteiligung.
Norwegen hat also nicht, wie Stoiber behauptet, wegen des 1999 eingeführten
"Erziehungsgehaltes" von 750 Mark für 0- bis 3-jährige Kinder eine so hohe
Geburtenrate, sondern wegen der schon vorher bestehenden deutlich besseren
und für die Frauen verläßlichen Betreuungssituation.
Deutschlan! d hat mit 1,37 eine der niedrigsten Geburtenraten innerhalb der
EU und gleichzeitig mit 62,0 Prozent eine der niedrigsten
Erwerbsbeteiligungen von Frauen (gefolgt in beiden Fällen nur noch von den
drei Schlusslichtern Griechenland, Italien und Spanien mit 1,14 und 48,0).
5. Die Forderung nach mehr staatlich finanzierten Betreuungseinrichtungen
und Ganztagsschulen führt zum altbekannten Schwarze-Peter-Spiel - "Wer
zahlt?" - und ist derzeit weder von den Kommunen noch von den Ländern allein
in ausreichendem Maß zu finanzieren. Deshalb müssen alle Beteiligten
eingebunden werden:
*Unternehmen und Gewerkschaften, die in Tarifverträgen zeitliches
Engagement von Eltern verankern, mehr Teilzeitangebote und
Betreuungsmöglichkeiten bieten können. Für Betriebe müssen die Beteiligung
an Familien-Audits ebenso selbst- verständlich werden wie die Einbeziehung
von Familienkompetenzen in die Per- sonalbewertung. Diese Themen gehören in
das Bündnis für Arbeit. Es muß deutlich werden, dass mehr
Familienfreundlichkeit ein Wettbewerbsvorteil der Betriebe und ein
Standortvorteil für die Bundesrepublik ist.
*die Eltern, Großeltern und Nichteltern, die häufig bereit sind, nicht nur
eigene Kindern, sondern auch fremde z! eitlich begrenzt mitzubetreuen, wenn
Selbsthilfe und Eigeninitiative unterstützt wird und nicht auf Barrieren
stößt.
*alle staatlichen Ebenen: Kommunen, Länder, Bund: Auf Bundesebene ist die
Gründung eines Fonds zu prüfen zur Bezuschussung von zum Beispiel
Ganztagseinrichtungen für Kinder aller Altersgruppen. Bei Erziehungszeiten
muß mehr Flexibilität erreicht werden. (Nicht nur Klein- kinder brauchen die
Eltern.) Erziehungsgeld muß schrittweise so gestaltet werden, dass mehr
Anreize für Väter entstehen, Erziehungszeit in Anspruch zu nehmen.
Grundsätzlich gilt: Nutzung und Aktivierung vorhandener Potentiale in
Vereinen, Betrieben und bei den Eltern, Unterstützung von Eigeninitiative
und Selbsthilfe, Abbau von Regeln, wo sie dem entgegenstehen.
IV. Verlagerung des Armutsrisikos von den Alten auf die Jungen
1. Auch bei einer deutlichen Verbesserung der Vereinbarungsmöglichkeiten von
Kindern und Beruf bleibt die Notwendigkeit eines verbesserten
Familienleistungsausgleichs bestehen, der Chancengleichheit für Kinder aus
benachteiligten Familien und zunehmende Chancengerechtigkeit zwischen
Kinderhabenden und Kinderlosen herstellt.
Dabei muß und klar sein: Die hauptsächliche Ursache von Familienarmut
besteht in den unzureichenden oder nicht vorhandenen Möglichkeiten für
Mütter oder Väter, erwerbstätig zu sein und ihre Kinder gleichzeitig gut
betreut zu wissen.
2. Die Bundesregierung hat erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die
Echternachsche Springprozession (zwei Schritte vor, einer zurück) beim
Familienleistungsausgleich beendet und das Kindergeld bereits zweimal
erhöht; ein dritter Schritt nach vorn ist für 2002 geplant.
Dies darf aber nicht der Endpunkt sein, sondern dies muss kontinuierlich
fortgesetzt werden.
Dazu sind die Wirkungen und Kosten neuer Instrumente zu prüfen, wie zum
Beispiel negative Einkommenssteuer, oder die Abschaffung oder Umwandlung des
Ehegattensplittings und andere, aus internationalen Erfahrungen bekannte
Instrumente. Gegebenenfalls können daraus neue Finanzierungsinstrumente für
uns entstehen.
3. Die seit Anfang 2000 vorliegenden Vorschläge zu einem Familiengeld von 1
000 Mark (Stoiber) oder einem Erziehungsgehalt (Geisler/Biedenkopf, Sachsen)
sind entweder nicht finanzierbar oder ungeeignet, Kinder- bzw. Familienarmut
zu beseitigen.
Das Stoiber'sche Familiengeld stellt geringverdienende Familien gerade mal
um 130 Mark besser, da 600 Mark Elterngeld und 270 Mark Kindergeld darin
aufgehen sollen. Bessergestellt werden vor allem die mittleren und höheren
Einkommen, für die 1 000 Mark im Monat - befristet auf drei Jahre - wiederum
kein Argument sind, weitere Kinder zu bekommen. V. Bevölkerungspolitik
versus Familienpolitik als neuer Gegensatz
Der Versuch, Bevölkerungspolitik zu betreiben, also materielle Anreize zu
schaffen, damit mehr Kinder (auch mehr als von den Familien gewünscht)
geboren werden, statt Familienpolitik, die darauf abzielt, dass sich
Menschen vorhandene Kinderwünsche erfüllen können, muss erfolglos bleiben.
Es gibt keinen einzigen Beleg in den letzten 25 Jahren dafür, dass höhere
materielle Leistungen auch zu höheren Geburtenraten führen. Es gibt
EU-Länder sowohl mit deutlich höheren als auch mit deutlich niedrigeren
Leistungen für Familien, die unabhängig davon alle höhere Geburtenraten
haben.
Es wäre vielleicht möglich, über eine "Prämie" von fünf- oder zehntausend
Mark die Geburtenrate zu steigern - aber nur bei denen, für die ein solcher
Betrag ein Argument für weitere Kinder sind. Sollten wir so etwas wollen?
Hierzu noch ein Zitat aus dem "Handelsblatt" vom 3. Januar 2001 unter der
Überschrift: CSU im familienpolitischen Abseits, Falscher Weg: Eine
Wurfprämie von 36.000 DM für je! des Kind - das klingt nur gut - bringt aber
gar nichts. Die gesellschaftliche Barriere zwischen Kinderwunsch und
Elternschaft sind ganz anderer Natur. In Deutschland wollen die Paare, wie
in anderen hoch entwickelten Industrienationen auch, ihre Kinder nämlich gar
nicht am Tropf des Staates aufziehen. Sie wollen Kinder haben und trotzdem
Karriere machen im Beruf. Hier muss Familienpolitik ansetzen, um die
Verwirklichung des Kinderwunsches "machbar" zu machen. Flexible
Arbeitszeiten in den Unternehmen, Ganztags- statt Halbtagsschulen, bessere
Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Elternteile, die nach der
"Familienpause" in den Beruf zurückstreben, sind bessere Anreize als noch
mehr Umverteilung zwischen Kinderlosen und Familien mit Kindern.
VI. Familienpolitik hat drei Säulen:
*die Vereinbarkeit von Kindern und Erwerbstätigkeit für Mütter und Väter,
*einen gerechten Familienleistungsausgleich,
*die infrastrukturellen Rahmenbedingungen für Familien - angefangen von
preiswertem Wohnraum, einem kinderfreundlichen Lebens- und
Nachbarschaftsumfeld, Spielplätzen, die mehr sind als Hundeklos, über
kindgerechte, preisgünstige Freizeit-, Bildungs- und Naherholungsangebote
bis hin zu einem kritisch zu prüfenden Familienwahlrecht (Peschel-Gutzeit,
HH).
In der Abwägung, welches die wichtigste Säule ist, mit der Familienpolitik
heute steht oder fällt, bleibt die Verbesserung der
Vereinbarungsmöglichkeiten von Kindern und Erwerbstätigkeit, die
Harmonisierung von Familie und Arbeitswelt die wichtigste und muss deshalb
Hauptziel der Familienpolitik der SPD auf allen Ebenen sein.
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