SPD-Parteitag 7.-9.12.1999 - Beschluss EU 7
Europäische Frauen- und Chancengleichheitspolitik
Frauen haben seit jeher in hohem Maß von der europäischen Einigung profitiert. Eine Reihe von fortschrittlichen Richtlinien haben zum Teil gegen nationale Widerstände die Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Erwerbsleben erzwungen und wirksame Diskriminierungsverbote erreicht. Und die Bundesrepublik Deutschland hat mehrfach Korrekturen durch den Europäischen Gerichtshof (EUGH) hinnehmen müssen.
Dennoch war der europäische Handlungsrahmen bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam am 1. Mai 1999 noch stark eingeschränkt. Seitdem gilt der Grundsatz der Chancengleichheit, verbunden mit einem Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Frauen- und Gleichstellungspolitik einschließlich einer aktiven Frauenförderungspolitik ist seitdem in einem umfassenden Sinn Gemeinschaftspolitik. Daher erwarten die Frauen in der SPD und die Wählerinnen der rot-grünen Bundesregierung auch auf der europäischen Ebene eine von Berlin ausgehende Initiative für die Ausgestaltung einer emanzipatorischen Frauen- und Gleichstellungspolitik.
Vorrangig ist zu fordern:
- die Einrichtung eines formellen Frauenministerrates, für den in der deutschen Präsidentschaft bereits geworben wurde. Als vorbereitenden Schritt ist eine ständige Arbeitsgruppe "Gleichstellung von Mann und Frau" beim Rat einzusetzen,
- eine Kommissarin für das Ressort Chancengleichheit von Männern und Frauen, die für die Verwirklichung des "gender-mainstreaming"-Konzeptes zuständig ist, das Gleichstellungsbelangen in allen Politikbereichen zur Geltung verhelfen soll.
Kommissionspräsident Prodi, der schon mit seinem mangelnden Einsatz zur Erhöhung des Frauenanteils in der Europäischen Kommission Enttäuschung verursacht hat, sollte veranlasst werden, den Ressortzuschnitt der Kommission in Sachen Chancengleichheit zu verändern,
- die Erhöhung des Frauenanteils auf allen Hierarchieebenen bei den Bediensteten der Europäischen Institutionen bis hin zur Parität.
Soweit die Bundesregierung für Nominierungen zuständig ist, erwartet der SPD-Parteitag ab sofort für Gremien und Ämter, in denen Frauen zur Zeit eklatant unterrepräsentiert sind, die Benennung von Frauen, um einen Durchbruch zu erreichen (z.B. als Richterin und Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, als Rechnungsprüferin beim Europäischen Rechnungshof etc.). Darüber hinaus wird erwartet, daß die Bundesregierung und die Verantwortlichen in der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) sich auf EU-Ebene für die Berufung von Frauen in Führungsämtern einsetzen.
Der SPD-Parteitag fordert die Bundesregierung im Einvernehmen mit der SPD-Bundestagsfraktion ferner auf,
- die konkrete Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit von Mann und Frau in der europäischen Beschäftigungsstrategie in allen vier Säulen der beschäftigungspolitischen Leitlinien (Beschäftigungsfähigkeit, Unternehmertum, Anpassungsfähigkeit an den industriellen Wandel sowie Chancengleichheit) in den Nationalen Aktionsplan als einen Schwerpunkt einzubeziehen, - darüber hinaus ein Fünftes Aktionsprogramm für Chancengleichheit von Mann und Frau auf EU-Ebene zu unterstützen,
- die Mindeststandards der EU-Richtlinie für Elternurlaub unverzüglich in deutsches Recht umzusetzen, um die Wahlmöglichkeiten für junge Eltern und die Beteiligungsmöglichkeiten für junge Väter zu verbessern,
- die Umsetzung des nationalen Aktionsplans gegen Gewalt an Frauen mit grenzüberschreitendem Erfahrungsaustausch und grenzüberschreitenden Aktionen zu verbinden, vor allem zur Eindämmung des Frauenhandels. Hierfür ist es dringend erforderlich, national wie supranational den Opferschutz zu verbessern, u.a. durch ein mindestens für die Dauer eines Strafprozesses begrenztes Aufenthaltsrecht, illegal erworbene Gewinne zu beschlagnahmen und die polizeiliche Zusammenarbeit, die Zusammenarbeit der Justiz und die Aktionsfähigkeit von EUROPOL zu verstärken. In diesem Sinn ist ein "Europäisches Jahr gegen Gewalt" zu Beginn des nächsten Jahrtausends zu unterstützen,
- Frauenbelange beim Stabilitätspakt für Südosteuropa und bei den Verhandlungen zur EU-Erweiterung inhaltlich und personell umfassend zu berücksichtigen. Frauen in den Bürgerkriegsgebieten waren und sind besonderen Formen von (sexueller) Gewalt ausgesetzt, sie müssen das tägliche Überleben organisieren, traumatisierten Kindern Schutz bieten, große Lasten des Wiederaufbaus tragen. In den Transformationsländern sehen sich Frauen zunehmend mit dem Verlust von Beschäftigung und gesellschaftlicher Teilhabe konfrontiert bei gleichzeitig erheblich erschwerten Alltagsbedingungen. Der SPD-Parteitag erwartet, dass die besondere Betroffenheit von Frauen sowohl bei den Beitrittsverhandlungen wie auch beim Stabilitätspakt berücksichtigt wird.
Die alte Bundesregierung ist bei den großen UN-Konferenzen in Übereinstimmung mit der europäischen Ebene eine Vielzahl von Frauen- und gleichstellungspolitischen Verpflichtungen eingegangen, die auch von den heutigen Koalitionsparteien geteilt werden. Die Bundesregierung wird daher aufgefordert, im Rahmen des Vorbereitungsprozesses der UN-Generalversammlung "Peking plus fünf" im Juni 2000 eine Bilanz über Geleistetes und noch zu Erfüllendes zu erstellen und einen erneuten gesellschaftlichen Diskussionsprozess mit der interessierten organisierten und nichtorganisierten Frauenöffentlichkeit anzustoßen. Die internationale Sozialdemokratie hat im Bemühen um die Gleichstellung der Geschlechter große Verdienste erworben, das Ende ist allerdings noch lange nicht erreicht. Daher kommen der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) mit ihren europäischen Mitgliedsparteien, der Sozialistischen Internationale (SI) und der Sozialistischen Fraueninternationale (SIW) besondere Verantwortung zu, in ihren Aktions- und Machtbereichen weiterhin ohne Wenn und Aber für eine emanzipatorische Frauen- und Gleichstellungspolitik einzutreten.