28.10.2000
Landesparteirat der BayernSPD
lehnt Rentenpläne ab
Am Samstag den 28.10.2000 hat der Landesparteirat der BayernSPD mit deutlicher Mehrheit eine ablehnende Position zu den Rentenplänen der Bundesregierung beschlossen.
Kernpunkte des Beschlusses sind:
- die Ablehnung der Senkung des Rentenniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung
- die Ablehnung einer privaten, nicht paritätisch finanzierten Zusatzvorsorge zum Ausgleich der Rentenniveausenkung
- die Forderung nach der im Wahlprogramm versprochenen eigenständigen Alterssicherung für Frauen
- die Forderung nach der mittelfristigen Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung und die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen.
Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:
Innovation und Gerechtigkeit bei der Alterssicherung einlösen -
Rentenpläne der Bundesregierung korrigieren.
I.
Die tiefgreifenden wirtschaftlichen Veränderungen, die mit Schlagworten wie Globalisierung, Informationsgesellschaft und Innovationsdynamik umschrieben werden, haben auch nachhaltige Auswirkungen auf Arbeitswelt, Lebensverläufe und soziale Sicherungssysteme.
Gerade in solchen Umbruchphasen, gerade angesichts der von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verlangten Flexibilität und Mobilität, steigt das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit subjektiv und objektiv.
Die Sozialdemokratie wurde vor diesem Hintergrund vor allem auch deshalb gewählt, weil ihr die Menschen zugetraut haben, die notwendige Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft unter Wahrung sozialer Gerechtigkeit zu bewältigen.
Die notwendigen Reformen im System der Alterssicherung sind die entscheidende Nagelprobe für unseren Gesamterfolg und die Mehrheitsfähigkeit der Sozialdemokratie. Im zweiten Halbjahr 1999 haben wir in harten internen Auseinandersetzungen und nach bitteren Wahlniederlagen in Ländern, Kommunen und bei der Europawahl gelernt, dass die Einlösung des Versprechens sozialer Gerechtigkeit unverzichtbar ist, wenn die SPD gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern attraktiv und glaubwürdig bleiben will. Auch die Umfragen aus dem Sommer 2000 belegen dies mit aller Deutlichkeit.
Die aktuellen Vorschläge des Bundesarbeitsministers und die Mehrheitsbeschlüsse von SPD-Parteivorstand und Bundestagsfraktion haben bei Gewerkschaften und Sozialverbänden erhebliche Irritationen verursacht, werden in der Bevölkerung weitgehend abgelehnt und lösen die anstehenden Probleme nicht.
II.
Die Einwände konzentrieren sich auf folgende Punkte:
- Durch Veränderungen an mehreren Stellen der künftigen Berechnungsformel sinken die Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) im Verhältnis zu Löhnen und Gehältern auf ein Niveau, das nach den Worten des Parteivorstandsbeschlusses "den Lebensstandard im Alter nicht mehr angemessen absichern" kann. Es wird damit in einigen Jahren deutlich unter dem noch 1999 von der Bundesregierung versprochenen Satz von 67 % liegen.
- Das als Ausgleich dafür gedachte neue Standbein der Alterssicherung, die kapitalgedeckte Vorsorge, ist vor allem für Menschen mit niedrigen Löhnen und Gehältern nicht finanzierbar, da für viele von ihnen der Eigenanteil nicht aufzubringen ist. Altersarmut wird somit vorprogrammiert verstärkt, vor allem dann, wenn man unterbrochene Erwerbsbiografien (also zunehmende Zeiten ohne oder mit nur geringem Einkommen) unterstellt, die eine regelmäßige Einzahlung in private Vorsorgemaßnahmen unmöglich machen. Besonders gravierend wird sich dies in den neuen Bundesländern auswirken.
- Das Beharren auf "Beitragssatzstabilität" entlastet nur die Arbeitgeber. Die Zahlen des Parteivorstandes weisen eine bis zum Jahr 2008 schrittweise ansteigende und danach gleichbleibende Differenz des Arbeitgeberbeitrags (künftig zwischen ca. 9,3 % und 11 %) und dem um den Prozentsatz der Eigenvorsorge höheren Arbeitnehmerbeitrag (künftig zwischen 13 % und 15 %) aus. Die aus Steuermitteln finanzierten staatlichen Zuschüsse bzw. Steuerermäßigungen ändern daran nur wenig, zumal, wenn man in Rechnung stellt, dass der Arbeitgeberanteil schon immer voll steuerlich absetzbar war.
- Die Finanzierung der staatlichen Zuschüsse ist sozial ungerecht, da der Staatszuschuss mit steigendem Einkommen zunimmt. Personen mit höheren Einkommen, die schon jetzt über gute Möglichkeiten zusätzlicher Vorsorge verfügen, erhalten mehr als das Doppelte als Steuervorteil im Vergleich zu Durchschnittseinkommen. Zusätzlich entsteht die aus sozialdemokratischer Sicht fragwürdige Situation, dass die Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung vom Staat schlechter gestellt werden als die neue private Altersvorsorge. In der Endstufe entspricht das Volumen der Steuersubvention des Kapitaldeckungssystems zwei bis drei Beitragssatzpunkten in der GRV.
- Das Eigenvorsorgemodell orientiert einseitig auf die Anlageform Lebensversicherung und schränkt damit echte Eigenverantwortung ein, verhindert aber auch wünschenswerte kollektive Regelungen, z.B. durch Tarifverträge und Fondslösungen mit kollektiven Mitbestimmungsmöglichkeiten. Dieser wenig innovative Ansatz blockiert die Verfügung der Einzahlenden über ihr Eigentum, da ihnen nicht nur Spielräume in den Anlageformen weitgehend fehlen, sondern entgegen sozialdemokratischer Programmatik vom "Haben und Sagen" ausgeschlossen bleiben.
- Ökonomisch bedeutet die vorgesehene neue Form der Altersvorsorge
- einen Rückgang der Binnenkaufkraft durch die Schmälerung der besonders nachfragewirksamen ArbeitnehmerInneneinkommen,
- eine Aufblähung der ohnehin überdehnten Finanzmärkte durch neues anlagesuchendes Kapital sowie
- eine bis heute nur schwer berechenbare und nicht gegenfinanzierte Einschränkung öffentlicher Haushalte in Folge von Einnahmeausfällen durch die Zuschüsse und Steuererleichterungen zum Anreiz der privaten Vorsorge, die noch zum Volumen der Steuerreform hinzukommen. Dies bedeutet entweder die Gefährdung des Konsolidierungszieles oder weitere massive Kürzungen bei den öffentlichen Investitionen (oder beides).
- Gleichzeitig entstehen neue Einnahmeausfälle in anderen Zweigen der Sozialversicherung, z.B. aufgrund der Sozialversicherungsfreiheit der kapitalgedeckten Vorsorgeanteile und der Absenkung des Rentenniveaus.
- Das vorliegende Rentenkonzept löst die gesellschaftspolitischen Reformvorhaben einer Mindestsicherung und des Aufbaus einer eigenständigen Altersvorsorge der Frauen nur unzureichend ein, die zentraler Bestandteil von Wahlprogramm, Koalitionsvertrag und Eckpunkten von 1999 waren.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ohne Not das bewährte System der gesetzlichen Rentenversicherung schrittweise ausgehöhlt und als Kompensation dafür kein innovatives, stabiles Standbein der Altersvorsorge geschaffen wird. Stattdessen soll ein Umverteilungsmechanismus mit fragwürdiger wirtschafts- und sozialpolitischer Wirkung installiert werden. Auf diese Weise würden Arbeitseinkommen und Steuermittel zugunsten der privaten Versicherungswirtschaft und der Banken umgeschichtet, ohne dass ein gesellschaftlicher Nutzen entsteht.
Entgegen landläufiger Annahme belasten gerade die aktuellen Vorschläge die derzeit junge Generation in hohem Maße und gefährden damit die Akzeptanz von Sozialversicherungsbeiträgen in weiten Bevölkerungskreisen. Die Bereitschaft, hohe Beiträge in Alterssicherungssysteme zu zahlen, deren Leistungen das Niveau von Sozialhilfe kaum noch übersteigen, dürfte weiter zurückgehen.
III.
Demgegenüber fordern wir eine Rentenreform, die die sozialdemokratischen Grundwerte sowie die Kriterien von "Innovation und Gerechtigkeit" erfüllt. Dies bedeutet insbesondere:
- Das System der gesetzlichen Rentenversicherung muss weiterhin zentrale und lebensstandardsichernde Hauptsäule der Altersvorsorge bleiben. Das zusätzliche Standbein einer kapitalgedeckten Eigenvorsorge kann eine ergänzende Rolle spielen, was aber nicht zu Lasten des bewährten Systems der Umlagefinanzierung gehen darf.
- Die gesetzliche Rentenversicherung ist mittelfristig zu einem System der Erwerbstätigenversicherung weiterzuentwickeln, deren finanzielle Basis durch Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze und durch Einbeziehung aller Einkommensarten zu stabilisieren ist.
- Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung muss eine steuerfinanzierte Mindestsicherung ebenso geschaffen werden wie eine eigenständige Altersvorsorge für Frauen.
- Grundsätzlich haben Lösungen im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung Vorrang vor anderen Systemen. Sollte es jedoch zur Schaffung eines neuen Systems der Altersvorsorge mit Kapitaldeckungsverfahren kommen, so muss dies sozial gerecht finanziert werden, darf die Staatsfinanzen nicht weiter schwächen und muss die demografische Entwicklung tatsächlich auffangen. Deshalb gelten dafür folgende Kernanforderungen:
- Paritätische Finanzierung durch Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen. Sollte das Tabu der Beitragssatzstabilität aufrecht erhalten werden, so ist der Arbeitgeberanteil künftig nicht mehr allein lohnbezogen zu finanzieren (und damit nicht mehr lohnnebenkostensteigernd), sondern auf neuen Wegen. Zu denken wäre hier an Finanzierungsmodelle, die statt an der Rechengröße "Lohn" an Kapitalerträgen und Vermögen - eventuell auf gesamtwirtschaftlicher Basis - ansetzen. Dies würde den Faktor Arbeit entlasten und entspräche somit volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten ebenso wie den proklamierten Zielen der Bundesregierung. Zudem sind durch die Steuerreform 2000 nicht zuletzt durch die höher als geplant ausgefallene Absenkung des Spitzensteuersatzes zusätzliche Finanzierungsspielräume für Unternehmen entstanden.
- Die von den ArbeitnehmerInnen im Rahmen gesetzlicher Vorgaben aufgebrachten Anteile eines kapitalgedeckten Vorsorgesystems unterliegen deren Verfügungsgewalt. Gesetzliche Regelungen haben die Grundlagen für sozialpartnerschaftliche, tarifvertragliche oder betriebliche Modelle zu schaffen, wobei auch die Interessenlage von Arbeitgebern und Beschäftigten in kleineren Betrieben, die nicht von kollektiven Regelungen erfasst sind, zu berücksichtigen sind.
Insgesamt sind an der Konzipierung und Umsetzung der neuen Säule der Alterssicherung die Gewerkschaften zu beteiligen. Die kapitalgedeckte Altersvorsorge darf nicht durch lineare Faktoren doppelt rentenniveausenkend wirken.
Die eigenständige Altersvorsorge für Frauen ist über die jetzt vorgesehene Möglichkeit des Rentensplittings hinaus zu fördern, insbesondere durch gleiche Beiträge bei gleichen Leistungen für Frauen und Männer und der Bedingung der verbindlichen Teilung der erworbenen Ansprüche in der Zusatzversorgung bei Inanspruchnahme staatlicher Förderung.
IV.
Wir fordern die Bundesregierung auf:
- an unsere Wahlaussagen und den Koalitionsvertrag nachvollziehbar anzuknüpfen;
- im Rahmen der parlamentarischen Beratungen noch einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu ermöglichen. (Diese Aufforderung richtet sich an Bundesregierung und Bundestagsfraktion.);
- eine Rentenpolitik zu konzipieren, die die wirtschaftlichen und demografischen Veränderungen nicht einseitig den ArbeitnehmerInnen und EmpfängerInnen sozialer Leistungen auferlegt, sondern alle Einkunftsarten und alle Schultern der Gesellschaft angemessen zur Finanzierung der Umbaulasten heranzieht;
- eine Rentenpolitik zu betreiben, die nicht den Lösungen des 19. Jahrhunderts vor Bismarck Vorschub leistet, denen gemäß jeder seines Glückes Schmied sei (Eigenvorsorge), sondern die den Menschen gerade in Zeiten, in denen sie große Veränderungen schultern müssen, ein hohes Maß an sozialer Sicherheit zur Seite stellt. Die erfreuliche Entwicklung, dass die Menschen länger leben, wird nach allen Prognosen von weiterem Wirtschaftswachstum und höherer Produktivität der Erwerbstätigen begleitet, so dass von einem Mangel an finanziellen Ressourcen nicht die Rede sein kann. Lediglich die derzeitige Tendenz, dass der Faktor Lohn derzeit Anteile am Volkseinkommen verliert, und das Kapital immer höhere Anteile des gesellschaftlichen Wohlstandes an sich bindet, führt bei lohnbezogenen Beitragssystemen zu Engpässen. Weder Rückgang der Lohnquote noch reine Lohnbezogenheit der Sozialsysteme sind Naturgesetze.
Hier sind wir alle mit sozialdemokratischer Politik gefordert. Moderne Rentenpolitik hat Wege zu suchen, die Probleme der ganzen Gesellschaft unter Beteiligung der ganzen Gesellschaft zu lösen: Moderne Gestaltung statt unsozialer Anpassung.